Die digitale Ausgabe des Sarganserländers.
Marlen Reusser und die Achterbahnfahrt zum WM-Gold
Marlen Reussers Karriere gleicht einer Achterbahnfahrt: Vor einem Jahr stand sie wegen einer Post-Covid-Erkrankung auf der Kippe, nun feiert sie mit WM-Gold im Zeitfahren ihren vorläufigen Höhepunkt.
Dass es Marlen Reusser so weit gebracht hat, ist alles andere als selbstverständlich. Als Quereinsteigerin wagte sie 2019 ein Abenteuer, das nur wenige gewagt hätten: Sie gab ihren Job als Assistenzärztin auf, um in einer Sportart, die im Frauenbereich gerade Quantensprünge machte, ihre Grenzen auszuloten.
Ihr "grosser Motor" half, dass sich die ersten Erfolge rasch einstellten. Von Hindelbank im Emmental eroberte die Bauerntochter, die sich einst bei den Jungen Grünen politisch engagierte und bis 16 Geige spielte, im Eilzugtempo die Radsportwelt. Das "Bärner Meitschi", das sich durch Neugierde und Lernfähigkeit auszeichnet, entwickelte sich schnell zu einer kompletten Rennfahrerin - und fand sich bald schon in der Favoritenrolle wieder.
Der lange Weg zum grossen Coup
Der ganz grosse Coup blieb ihr lange verwehrt. Oft stand eine Niederländerin im Weg. In Kigali aber drehte Reusser den Spiess um und stieg zwischen der zweifachen Strassen-Weltmeisterin Anna van der Breggen und ihrer früheren Teamkollegin Demi Vollering zuoberst aufs Podest.
Dass sie ausgerechnet auf einer Strecke mit ständigem Auf und Ab triumphierte, passt sinnbildlich zu einer Karriere, die immer wieder von Rückschlägen geprägt war. Stürze, Krankheiten oder wie 2023 im aufgegebenen WM-Zeitfahren die mentale Gesundheit machten ihr zu schaffen. Doch Reusser stand stets wieder auf und bewies sich und der Welt, dass es sich gelohnt hat, den sicheren und gut bezahlten Arztberuf gegen ein Abenteuer auf zwei Rädern einzutauschen.
Noch vor einem Jahr stand ihre Karriere wegen einer Post-Covid-Erkrankung auf der Kippe. Sie musste sowohl die Olympischen Spiele in Paris als auch die Heim-WM in Zürich auslassen. Erst allmählich stellte sich gesundheitliche Besserung ein. Ein Teamwechsel, der gemeinsame Umzug mit ihrem Partner Henrik Werner nach Andorra und die Bereitschaft, ihr Leben fast vollständig dem Radsport unterzuordnen und auf einiges zu verzichten, ebneten den Weg zurück.
Belohnung für Entbehrungen
Der Preis dieser Entbehrungen ist sportlicher Erfolg. In diesem Jahr erlebt Reusser mit dem Sieg an der Tour de Suisse sowie den 2. Plätzen am Giro d’Italia und an der Vuelta ihre bislang beste Saison. Nach Ruanda reiste sie nach neuerlichen gesundheitlichen Problemen im Sommer zwar nicht optimal vorbereitet, sie wusste aber, dass alles möglich ist, wenn die Puzzleteile zusammenpassen. Mit einem perfekten Rennen erfüllte sie sich nun den Traum vom Regenbogentrikot.
Nach Silber 2020 und 2021 sowie Bronze 2022 war sie reif für diesen WM-Triumph. Ihre Fortschritte in den Anstiegen zahlten sich aus. Ihre beeindruckende Bilanz unterstreicht zusätzlich, wie verdient der WM-Titel ist: In 26 Zeitfahren ihrer Karriere verpasste Marlen Reusser nur zweimal das Podest, 16-mal stand sie ganz oben.
Olympia-Gold? WM-Double?
Doch wie weit geht die Reise noch? Reusser, die am Tag vor ihrer Triumphfahrt in Kigali 34 Jahre alt geworden ist, steht bis Ende 2027 beim spanischen Team Movistar unter Vertrag. Sie hat stets betont, erst dann aufzuhören, wenn sie überzeugt ist, ihr Potenzial ausgeschöpft zu haben. Olympia-Gold 2028 in Los Angeles könnte zum grossen Ziel werden - und sogar das seltene WM-Double aus Zeitfahren- und Strassen-Gold wäre ihr zuzutrauen. Am Samstag werden wieder alle Augen auf Marlen Reusser gerichtet sein.
Kommentare (0)
Schreibe einen Kommentar