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Marlen Reusser und ihr nächster WM-Anlauf
Am Sonntag, dem Tag nach ihrem 34. Geburtstag, bestreitet Marlen Reusser in Kigali das WM-Zeitfahren. Ein WM-Titel wäre das perfekte Geschenk. Doch die Beziehung zur WM ist kompliziert.
Marlen Reusser zählt seit Jahren zu den besten Zeitfahrerinnen der Welt. Olympia-Silber, EM-Gold, Siege auf höchstem Niveau - und doch fehlt in ihrem beeindruckenden Palmarès ein Titel ganz besonders: jener der Weltmeisterin im Einzelzeitfahren. Schon oft war sie nah dran, ganz oben stand sie nie. Am Sonntag bekommt sie in Ruanda, zum Auftakt der ersten Strassenrad-Weltmeisterschaften auf afrikanischem Boden, eine neue Chance auf das Regenbogentrikot, vielleicht die beste seit Jahren.
"Ich weiss, dass es sehr realistisch ist, dass ich es holen kann", sagt Reusser, selbstbewusst, aber nicht überheblich. Denn sie weiss auch, wie schnell Träume platzen können. 2021 in Flandern fehlten ihr nur zehn Sekunden zum WM-Titel - ausgerechnet an ihrem 30. Geburtstag. Ein Jahr später gewann sie Bronze in Australien. 2023 dann der Tiefpunkt: In Glasgow stieg sie im Kampf um die Medaillen plötzlich vom Velo, ausgelaugt, mental erschöpft. Die Heim-WM 2024 in Zürich verpasste sie krankheitsbedingt, eine Long-Covid-Erkrankung hatte sie über Monate ausgebremst. Kein Wunder sagt sie heute: "Ich pflege eine spezielle Beziehung zur WM."
Zurück mit neuer Energie
Und trotzdem: Reusser steht wieder da, nicht resigniert, sondern fokussiert. Nach gesundheitlichen Rückschlägen im Sommer - einem Magen-Darm-Virus beim Giro, einer Lebensmittelvergiftung vor der Tour de France und einem grippalen Infekt im August - kehrt sie nun nach fast zweimonatiger Wettkampfpause zurück. Anhaltspunkte über ihren Formstand gibt es nur aus dem Training.
Zuletzt bereitete sie sich im Engadin gezielt auf die WM vor. Swiss Cycling organisierte ein Höhentrainingslager am Berninapass für das Frauen-Nationalteam - für Reusser die ideale Umgebung. "Es geht mir wirklich gut", sagt sie. Sie hebt die positive Dynamik im Team und die Arbeit von Nationalcoach Edi Telser hervor. Es scheint, als habe sie in dieser Gruppe neue Kraft für grosse Aufgaben geschöpft.
Beste Saison der Karriere
Sportlich ist sie bereit. Trotz wiederkehrender gesundheitlicher Probleme blickt die Bernerin auf die stärkste Saison ihrer Karriere zurück: Sie gewann die Tour de Suisse, triumphierte bei der Burgos-Rundfahrt, wurde bei der Vuelta und beim Giro d’Italia jeweils Zweite. Auch deshalb reist sie mit einer Mischung aus Gelassenheit und innerem Feuer nach Kigali.
Im Hochland Ruandas trifft Reusser auf ein welliges, forderndes Zeitfahrprofil, das ihr entgegenkommen könnte, wenn die Beine mitmachen - und der Kopf. "Ich habe eigentlich alle, die an den Start gehen, mehrfach geschlagen", sagt sie. Und doch will sie den Druck nicht ins Unermessliche treiben: "Die Erwartung an mich selber ist, ein gutes Rennen zu fahren, dass ich möglichst viel von allem, was ich über die Jahre gelernt habe, und von meiner Form, die ich in diesem Jahr gehabt habe, auf die Strecke bringen kann."
Sie weiss: Es liegt nicht allein in ihren Händen. Auch die Leistung der Konkurrenz wird entscheiden.
Und gleichwohl: Wenn alles zusammenpasst, dann ist Marlen Reusser die Fahrerin, die es zu schlagen gilt. Vielleicht wird der 34. Geburtstag am Samstag ja doch noch nachträglich gekrönt.
Kein Kurs für die Schweizer Männer
Bei den Schweizer Männern sind die Hoffnungen auf ein Topergebnis diesmal nicht allzu gross. Der Parcours mit seinen vielen Höhenmetern ist zu anspruchsvoll, als dass Stefan Küng oder Mauro Schmid realistisch in den Kampf um die Podestplätze eingreifen könnten.
"In den letzten Jahren hatte ich stets den Anspruch, an der WM eine Medaille zu holen, und das ist mir teilweise auch gelungen", sagt Küng, der 2020 Bronze gewann und 2022 in Australien den WM-Titel als Zweiter nur um knapp drei Sekunden verpasste. Doch dieses Jahr sei die Ausgangslage eine andere. "Wenn ich das Streckenprofil anschaue und auch die Startliste, dann würde ich fast sagen: Eine Medaille wäre eine Sensation", so der Thurgauer, der sich mit den vielen Bergetappen an der Vuelta auf die WM vorbereitet hat.
Anders als sein Namensvetter Stefan Bissegger kam es für Küng trotz der für ihn ungünstigen Strecke nicht infrage, auf die WM zu verzichten. "Das Trikot des Nationalteams zu tragen und das Land an einer WM zu vertreten, das ist für mich eine Ehrensache", sagt er. Am Mittwoch steht Küng gemeinsam mit Reusser und Schmid auch im Mixed-Teamzeitfahren am Start.
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