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Er kam mit Flausen und geht als Grösster
Am Sonntag bestreitet Nino Schurter sein letztes Rennen als Mountainbike-Profi. Der 39-jährige Bündner tritt als erfolgreichster Mountainbiker ab. Ein Rückblick in sieben Episoden.
Die Anfänge
Mit 17 Jahren, zehn Jahre nachdem er als Siebenjähriger sein erstes Rennen bestritten hat, nimmt Schurter zum ersten Mal an einer Weltmeisterschaft teil. Der Sohn eines ehemaligen NLA-Eishockeygoalies und begeisterten Downhill-Mountainbikers tritt bei den Junioren an und ist damals noch die Nummer 2 hinter dem Tschechen Jaroslav Kulhavy. Mit dem Schweizer Team gewinnt er Silber.
Erst da wird Schurters Ehrgeiz geweckt. Sein Sohn habe einen "Haufen Flausen im Kopf gehabt" und "lange nicht seriös trainiert", sagt Vater Ernst über die Kindheit. Thomas Frischknecht, Schurters langjähriger Teamchef, Mentor und alsbald auch Freund, erlebte dann bereits einen anderen Nino: "Er war brutal ehrgeizig und egoistisch. Er schaute nur auf sich."
Damit steht sich Schurter zu Beginn teils selbst im Weg. Der Ehrgeiz, diese feste Entschlossenheit und Bereitschaft, dem Sport alles unterzuordnen, alles dafür zu tun, um das Maximum aus sich und dem Material herauszuholen, verhilft ihm aber auch in die Weltspitze. Zwei WM-Titel bei der U23 deuten Schurters immenses Potenzial in den Folgejahren an.
Der erste WM-Titel
2009 nimmt Schurters Aufstieg zur Nummer 1 Konturen an. Nach drei WM-Titeln in den Nachwuchskategorien und einer frühen Bronzemedaille an den Olympischen Spielen 2008 in Peking gelingt dem damals 23-Jährigen endgültig der Durchbruch bei der Elite. Im Weltcup diktiert zwar noch der Franzose Julien Absalon das Geschehen, an dessen Rekorden sich Schurter später messen wird. An der WM in Canberra weist Schurter den "haushohen Favoriten", wie die Schweizer Nachrichtenagentur Si den Konkurrenten bezeichnet, jedoch um drei Sekunden in die Schranken.
"Ich war zuletzt mental in gar keiner guten Verfassung. Aber heute morgen habe ich gespürt, dass die Beine gut sind. Es war schliesslich das perfekte Rennen", sagt Schurter, nachdem ihn im Vorfeld eine hartnäckige Bronchitis beeinträchtigt hatte. In der Saison danach feiert Schurter seine ersten Weltcupsiege und gewinnt zum ersten von insgesamt neunmal den Gesamtweltcup. Selten bis nie ist er von da an verletzt oder krank, nur an vier seiner 22 Weltmeisterschaften bleibt er ohne Medaille.
Die grösste Niederlage
Für die Allermeisten wäre Olympiasilber ein riesiger Erfolg, für Schurter ist sie 2012 in London eine Enttäuschung. Mit 26 Jahren ist der Bündner im Weltcup der grosse Dominator und an den Sommerspielen der haushohe Favorit.
Drei Jahre nach dem ersten von zehn WM-Titeln und vier Jahre nach Olympiabronze in China ist Schurter in London der "Trumpf-Puur" im Schweizer Team, wie es Nationaltrainer Beat Stirnemann ausdrückt. Alles ist angerichtet für den ersten Schweizer Mountainbike-Olympiasieg.
Julien Absalon ist vom Pech verfolgt und scheidet früh aus der Entscheidung. Doch unverhofft hält sich der endschnelle Jaroslav Kulhavy an Schurters Hinterrad - und entscheidet den Sprint um Gold für sich. Er sei enttäuscht, gesteht Schurter. Er nimmt sich aber Roger Federer zum Vorbild und sagt: "Ich glaube, ab morgen kann ich mich über Silber freuen. Ich fand es wirklich sehr schön von Roger, wie er sich über Silber freuen konnte - er als Champion, der sich eigentlich nur ans Siegen gewöhnt ist."
Der Olympiasieg 2016
Bronze 2008 in Peking, Silber 2012 in London. "Und Gold in Rio", antwortet Schurter in den bitteren Stunden nach dem Olympiarennen in London. Tatsächlich ist es kein leeres Versprechen, sondern vielmehr eine Mission. Eine Mission, die Schurter im Stile eines Grossen erfüllt. In Rio de Janeiro gelingt ihm ein perfektes Rennen, er triumphiert mit beträchtlichem Vorsprung vor Kulhavy.
Schurter spricht von seinem "wichtigsten Sieg" und sagt: "Ich habe vier Jahre darauf hingearbeitet. Silber in London musste sein." Und er kündigt an: "Meine Karriere ist nicht zu Ende!"
Der schönste Sieg
Was nach dem Olympiasieg noch kommt, ist gefühlt Zugabe. Doch es ist viel, sehr viel: Je fünf weitere WM-Titel und Gesamtweltcupsiege sowie den Rekord für die meisten Weltcupsiege reisst sich Schurter noch unter den Nagel. Der WM-Titel 2018 und der Rekordsieg 2023 im Weltcup, der 34., sind besonders süss.
Beide Erfolge erringt Schurter in Lenzerheide. An keinem anderen Ort ist die Stimmung so elektrisierend wie vor seinem Heimpublikum unweit seines Wohnortes in Chur. "Gewaltig, einzigartig, unglaublich" sei das gewesen, so laut wie noch nie an einem Rennen, sagt der sonst so besonnene Schurter nach seinem siebten WM-Triumph. Dieser WM-Titel sei "zweifelsohne der schönste von allen, fast so schön wie der Olympiasieg", so Schurter. Sein Landsmann Florian Vogel staunt abermals und sagt: "Ich brauche das Wort 'Jahrhunderttalent' nicht gerne, aber er ist eines."
Der Zauberwald 2022
Zu Schurters Rivalen wird im Lauf der Karriere auch ein Schweizer. Lange fügt sich Mathias Flückiger in die Rolle der Nummer 2. 2021 wagt er sich aus der Deckung, 2022 kommt es zum Zwist.
Ausgerechnet am Weltcup in Lenzerheide duellieren sich die beiden in der Schlussrunde um den Sieg. Für Schurter, dem auf der Jagd nach Absalons Weltcup-Rekord die Zeit davonläuft, wäre es der geschichtsträchtige 34. Sieg. Flückiger hat wohl noch im Hinterkopf, wie ihm Schurter an der WM 2021 Gold mit einem offensiven Manöver in der letzten Kurve weggeschnappt hat.
Die beiden biegen in die letzte Abfahrt ein, in den viel zitierten Zauberwald. Keiner steckt zurück, es kommt zum Crash. "Er hat mich einfach abgeschossen. Dort, wo 'Math' versucht hat zu überholen, ging es schlicht nicht. Das war definitiv 'too much'", sagt Schurter, während sich Flückiger nicht als Schuldigen sieht. Weil es von der Stelle keine Videobilder gibt, bleibt die Wahrheit im Verborgenen.
Der Vorfall wühlt Schurter auf, vor allem wegen der entgangenen Chance auf den 34. Sieg. "Wenn das ein anderes Rennen gewesen wäre, hätte er gesagt 'schwamm darüber'. Aber gerade da ging es ihm sehr, sehr nahe", sagt Teamchef Frischknecht. In der Folge herrscht Eiszeit zwischen Schurter und Flückiger. Zwar begraben sie das Kriegsbeil in einer Aussprache, Freunde werden sie nicht mehr, wie Schurter wiederholt erklärt.
Der 34. Weltcup-Sieg
Ein Jahr später kann Schurter das Drama vom Zauberwald abhaken. Wieder vor seinem Heimpublikum gelingt ihm der 34. Sieg schliesslich doch. "2018 war top, aber das heute toppt es vielleicht noch", sagt er. Zwei weitere Siege kommen noch dazu, Schurters Bestmarke steht damit bei 36 Siegen.
Frischknecht, als Aktiver selbst Weltmeister und mehrfacher Gesamtweltcupsieger, resümiert: "Ich habe den Sport vielleicht auf die Landkarte gebracht, Nino hat ihn aber salonfähig gemacht."
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