Die digitale Ausgabe des Sarganserländers.
In "PNR" ist das Leben fast zu schön, um wahr zu sein
Mit dem Roman "PNR. La Bella Vita" schliesst Sibylle Berg ihre Zukunftstrilogie ab. Die düstere Stimmung der zwei ersten Bände weicht darin dem Versuch, die Welt friedlich und solidarisch zu denken.
Für Zukunftseuphorie besteht wenig Grund. Wäre da nicht die junge Generation, die träumen darf und ihre Zukunft noch vor sich hat, dann könnte alles weitergehen wie bisher. In den Romanen "GRM" (2019) und "RCE" (2022) hat Sibylle Berg ein düsteres Bild der Zukunft entworfen. Eine Gruppe von jugendlichen Hackern wehrte sich darin gegen die Macht der Technik und plante eine Rebellion.
Erfolgreiche Rebellion
In "PNR" erfahren wir nun, dass sie damit Erfolg gehabt haben. Das World Wide Web ist inzwischen ausgeschaltet, die Tech-Milliardäre sind vertrieben, eine neue Netzwerk-App erlaubt wieder respektvolle Chats zwischen den Menschen, die ihr Leben solidarisch neu organisieren. Von Konsum- und Jobzwängen befreit, geniessen sie "La Bella Vita", wie Bergs Buch im Untertitel heisst.
Das genderfluide "Trashkind" Don, dessen Hass die Rebellion mit angezettelt hat, sieht die Welt auf einmal in rosigem Licht: "Und ich habe keine Wut mehr", setzt Dons Erzählung ein. Don bemerkt, nicht mehr verachtet zu werden. Jeden Morgen staunt Don, wie viel Glück das Leben bereit hält und macht es sich zur Aufgabe, die neue Zeit zu dokumentieren, damit sie späteren Generationen in Erinnerung bleibt. Gelernt hat Don nichts ausser Kampfsport.
Schöne neue Welt
"PNR" beschreibt eine Gegenwelt zu den düsteren dystopischen Szenarien, die sich literarisch wie filmisch grosser Beliebtheit erfreuen. In den 93 Kapitelüberschriften hält Sibylle Berg die Regeln fest, nach welchen die Menschen aus freiem Willen handeln und dabei alle Rechte für ein selbstbestimmtes Leben geniessen. "Keine Einzelperson und kein Teil des Volkes kann die Ausübung der Souveränität beanspruchen" heisst es etwa, oder "Digitale Tools dienen der Mitbestimmung, nicht der Überwachung".
Niemand vermisst die libertären Regierungen und ihr "alternativloses" Regime, das abgeschafft wurde. Zumindest in Europa breitet sich eine kollektive Gelassenheit aus, die unter der italienischen Sonne erst recht gedeiht, wohin Don und die alte GRM-Bande gezogen sind.
Dennoch hallt in den Köpfen das Vergangene nach, die überwundene "Logik der Verwüstung, des moralischen Desasters, der Verelendung, der Obszönität, der Gewalt". Auch Don beschleicht hin und wieder die Furcht, dass das Gute nicht von Dauer sein könnte, denn "alles läuft fast zu glatt". Don erfährt bei sich selbst, wie schwer es ist, das Leben frei und zwanglos zu organisieren, wenn keine Stechuhr tickt und kein Konsumtempel lockt, um die Langeweile zu vertreiben und die innere Leere mit unnützem Zeug zu füllen.
Lauernde Skepsis
In den Optimismus mischt Sibylle Berg, die seit 2024 Mitglied des Europäischen Parlaments ist, in ihrem Roman eine lauernde Skepsis. Was wird, wenn die Zweifler und Ewiggestrigen doch Recht behalten? Nicht alle Menschen sind bereit für das kreative Chaos und den gegenseitigen Respekt, der die neue Zeit ausmacht.
So wirft auch der dritte Band ihrer Trilogie einen gespenstischen Schatten. Dies nicht allein, weil Berg noch immer nüchtern und oft unverblümt harsch erzählt. Die Lektüre ihrer schönen Utopie lässt spüren, dass es uns womöglich schwerer fällt, einer anspornenden Zuversicht zu glauben als dem dystopischen Horror, der den eigenen Erwartungen entspricht. In diesem Sinn ist "PNR" eine herausfordernde Zumutung.
Doch Sibylle Berg beharrt trotz allem auf der Hoffnung: dem schönen Leben, von dem sich Don wünscht, dass es nie "zu Ende gehen wollte".*
*Dieser Text von Beat Mazenauer, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert.
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